Sascha Lobo ist Digital-Punk, Spiegel-Online-Kolumnist und provoziert gelegentlich mit seiner Sicht auf und aus der Netzwelt. Im Interview auf der Europace-Konferenz verdeutlicht der Mann mit dem roten Irokesen-Haarschnitt, wie die Digitalisierung die Beziehung zum Kunden verändert.

Herr Lobo: Google-Forscher Ray Kurzweil prognostiziert, dass wir im Jahr 2030 mit Nanorobotern in unseren Gehirnen leben, macht Ihnen das Angst?
Sascha Lobo: Sollte es vielleicht. Kurzweils Prognosen haben eine Trefferquote von 86 Prozent. Ich muss zugeben, dieses Zukunftsszenario gehört nicht zu meinen bevorzugten, aber er könnte schon Recht behalten. Google nimmt ja aktuell den Pharmamarkt ins Visier, das Unternehmen will Medikamente entwickeln, die etwa die Anti-Baby-Pille ersetzen. Eine App misst dabei die Körpertemperatur, so sehen Frauen, wann ihre Fruchtbarkeit hoch ist…

Wenn sie dafür keine Hormone mehr schlucken müssten, wäre das kein Nachteil…
Lobo: Sicher, Digitalisierung ist also eine Frage der Perspektive. Was aber schon heute Angst machen kann, ist das exponentielle Tempo der Transformation. Es ist gerade einmal zehn Jahre her, dass Apple das erste iPhone vorgestellt hat. Vor drei Jahren haben Nutzer ihr Handy im Schnitt 221 Mal am Tag aus der Tasche gezogen. Neulich habe ich 14-jährige Mädchen gefragt, wie oft sie das Telefon täglich in die Hand nehmen. Die Antwort lautete: Einmal. Und dann bleibt es für den Rest des Tages da. Am 1. November 2016 war überdies der Tag, an dem die Mobile- die Desktop-Nutzung überholt hat.

Was bedeutet diese mobile Revolution für die Immobilienfinanzierung?
Lobo: Wertschöpfung wandert in die digitale Sphäre. Wir sehen das daran, dass die wertvollsten Unternehmen der Welt Plattformkonzerne sind: Apple, Alphabet und Microsoft sind die Top drei. Sie dringen über kurz oder lang auch in die angestammten Märkte der Kreditwirtschaft vor. Da bin ich mir sicher.

Was raten Sie den Bau-Finanzierern und Konsumenten-Kreditgebern?
Lobo: Schauen Sie genau hin, wie Menschen mit der Technik umgehen. 100 Millionen Pokémon-Go-Spieler können nicht irren (lacht). Sie jagen zu hunderten durch den Central Park in New York. Dieses Bild macht deutlich: Datenströme verändern das Verhalten der Menschen. Da gibt es schräge Beispiele.

Welche?
Lobo: In den USA kursiert eine App, in der sich Nutzer mit ihren Geschlechtskrankheiten registrieren lassen können. Ähnlich anderen Portalen können sich die Inserenten vernetzen und austauschen. Wenn die Leute einen Nutzen in einer Applikation sehen, geben sie viel von sich preis. Das ist eine logische Schlussfolgerung.

Sehen Sie keine Schamgrenze erreicht?
Lobo: Eine andere App analysiert Fotos von Essen, das Menschen posten und spuckt Nährstoffe und Kalorien-Werte aus. Diese Daten dürften Krankenkassen interessieren. Letztlich definiert aber jeder für sich, wo seine persönliche rote Linie verläuft. Wovor er Angst hat. Was tabu ist. Was nicht jeder wissen soll.

Wie können Banken & Co. diese Entwicklung nutzen?
Lobo: Indem sie sich damit auseinandersetzen. Im Idealfall im Dialog mit ihren Kunden. Der gesellschaftliche Wandel, Privates öffentlich zu machen, bietet Unternehmen eben auch eine große Chance ihre Kundenbeziehungen zu intensivieren. Gleichzeitig steigen die Anforderungen der Kundschaft, vor allem der jüngeren. Ich nenne das Sofortness. Jugendliche erwarten heute, dass WhatsApp-Nachrichten binnen Minuten beantwortet sind. Diese digitale Ungeduld erfordert von Firmen wiederum, dass sie rund um die Uhr Fragen beantworten können. Eine riesige Chance für erklärungsbedürftige Produkte wie eine Baufinanzierung. Wer hier wach ist, wird das Geschäft machen.

Gleichzeitig füttern Finanzfirmen die junge Kundschaft mit teils unverschämten Angeboten an. Ist der Markt verrückt?
Lobo: Die App Wanga aus Großbritannien schleudert Geld auf das Konto von Jugendlichen per Sofortkredit, zu einem horrenden Zinssatz 0,8 Prozent – pro Tag. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass Wechat, ein Anbieter aus China, pro Tag mehr als 46 Milliarden Dollar an Finanztransaktionen vermittelt. Das deutsche Modell Paypal erreichte 2016 gerade einmal sechs Milliarden Euro Transaktionsvolumen. In Australien kaufen reiche Chinesen über Wechat Immobilien. Der Markt verändert sich. Also „ver-rückt“ im Wortsinne, ja.

Wie sehen dann künftige Online-Produkte für Finanzfirmen aus?
Lobo: „Back me up“ ist eine Hausratversicherungs-App bei der man drei Gegenstände für 15 Euro versichern kann. Das Fahrrad, die Skier und den Laptop. Geld verdient damit niemand. Das ist eher ein Marketinginstrument. Aber genau darum geht es. Mit potentiellen Käufern in Kontakt kommen. Am schnellsten geht das über digitale Plattformen.

 

Datenströme ähneln reißenden Flüssen, wer kann das noch kontrollieren?
Lobo: Ich glaube an die Macht der Exekutive. Gesetzgeber sind gefordert Spielregeln zu definieren und auf die Einhaltung zu achten. Außerdem kommt es sehr darauf an, wie die Daten interpretiert werden und welche Angebote Unternehmen daraus generieren. Pay as you drive ist so ein Beispiel. Eine Autoversicherung, die mit einem schlechten Tarif startet und günstiger wird, wenn der Fahrer defensiv fährt – sich etwa konsequent an Geschwindigkeitsbegrenzungen hält. Die Rate wird in Echtzeit per Datentransfer angepasst. Bonus statt Malus und nicht wie Kaskoversicherungen bislang gedacht wurden: Mit Strafe bei Fehlverhalten. Die Menschen lieben das.