Von Prof. Dr. Gunter Dueck

Viele Branchen befürchten eine Zeit traumatischer Digitalisierung. Da ändert sich wohl vieles… Aber was genau? Viele Kernprozesse in den Unternehmen werden bald nicht mehr ad-ministriert, sondern „digitalisiert“: der Computer übernimmt einstiges Menschenwerk. Das ist an sich nicht ärgerlich, denn es führt zu Effizienzgewinnen und letztlich Kostensenkungen. Und Effizienz war ja nun lange Zeit das Wichtigste in den großen Unternehmen.

Nun aber, da man lange Zeit die Digitalisierung zum Zwecke der Kostensenkung betrieb, kommt die neue Zeit der digitalen Geschäftsmodelle. Die IT erlaubt das Internet der Dinge, ganz andere Banken- und Versicherungssysteme, eine Revolution im Autoverkehr oder eine ganz neue Staatsadministration. Neue Firmen schießen aus dem Boden, die auf die Namen Fintech, Biotech, Insurtech, Legaltech oder Proptech hören. Die mit solchen Startups verbundenen neuen Geschäftsmodelle zielen auf eine weitgehende Automatisierung ab – so wie die Effizienzbemühungen der früheren Jahre auch. Sie sparen aber nicht nur Kosten ein, sondern unter Umständen ganze frühere Unternehmen an sich. Braucht man morgen noch Banken oder Versicherungen wie heute? Autobauer leben von den Errungenschaften der genialen Motorentwickler, der deutsche Ingenieur ist berühmt. Nun aber sollen es simple Elektromotoren tun, und das Auto soll mit IT selbst fahren und mit Batterien aus China angetrieben werden. Die Veränderungen äußern sich nicht mehr in einer Umorganisation von Unternehmensabteilungen, sie finden auf der Ebene der ganzen Unternehmen statt.

Schlimmer noch: Die neue Zeit verlangt ganz neue Kernkompetenzen, wie zum Beispiel von Motorphysik zu Batteriechemie. In der Finanzbranche nimmt man nichtmehr nur Überweisungen an oder schließt Hausratversicherungen ab – das wird alles automatisiert. Was bleibt dann noch als Kernkompetenz? Der Kunde braucht diffizile Immobilienberatung, Firmen wollen einen Mehrfristfinanzplan. Alles, was nicht automatisiert ist, verlangt nun echte Top-Berater. Es werden hier nicht wirklich ganz andere Kompetenzen verlangt, aber höhere. Der nötige Exzellenzgrad wird steigen! Gibt es aber die Exzellenten denn noch genügend, wo man doch nur an das Sparen dachte? Und wenn Exzellente in den nächsten Jahren pensioniert werden – die alten Erfahrenen, wo bekommt man Neue her? Früher lernte man von der Pike auf – in den Zweigstellen oder als Hilfskraft in der Versicherungsagentur. Was aber, wenn es keine Hilfsarbeiten mehr gibt, weil der Computer sie alle übernahm? Es gibt keinen „Karrierepfad“ mehr von oben nach unten, weil unten nur der Computer ist. „Rede und verhandle nur mit dem Kunden, den Rest erledigt die Finanzplattform für dich.“ Wie gelangt man in eine Welt, in der nur noch Meister verlangt werden?

Shift happens, das ist sicher. Aber diesmal ist es nicht so sicher, wie es ausgeht.

„Rückzug auf Kernkompetenzen“ und die Folgen

Unternehmen wurden von ganzen Beratergenerationen dazu erzogen, nur noch all das selbst im Unternehmen zu betreiben, was sie besser machen können als spezialisierte Kräfte draußen, die sich wahrscheinlich billiger einkaufen ließen, keine Betriebsrente bekämen und wie eine atmende Reserve hin und herbestellt werden könnten. Man zog sich, so hieß es damals ganz neu klingend, auf die eigenen Kernkompetenzen zurück.
In der Automobilindustrie behielt man fast nur noch die forschende Entwicklung, die Endfertigung am Fließband und das Verkaufen der Autos beim Händler als „Kernkompetenz“.
Nun aber verändert die Digitalisierung die Gewichtungen. Die Kernkompetenzen verschieben sich.

Dematerialisierung

Bei Cloud Computing teilen sich mehrere bis viele Nutzer einen Computer in der Cloud. Die Kernkompetenz liegt in der Managementsoftware, die Cloud zu betreiben. Eine andere Kernkompetenz wäre, extrem billige Server für die Cloud zu bauen (für 30 Euro das Stück). Man spricht von einer „Sharing Economy“, es geht aber um Cloudifizierung, also um das effiziente gemeinsame Ausnutzen teurer Ressourcen.
Mähdrescher und Rübenroder werden schon lange von mehreren Bauern über Maschinenringe genutzt, alles kalter Kaffee! Neu ist das Steuern der gemeinsamen Nutzung über Software im Netz. Damit lassen sich jetzt eben nicht nur Erntemaschinen, sondern auch Transportmittel und Immobilien besser nutzen.

Immer läuft es auf eine Dematerialisierung hinaus. Weniger Computer und Kräne. Weniger Autos. Weniger Teile an den Autos, weil eben „Hardware“ durch „Software“ ersetzt wird. Die Intelligenz des Ganzen wandert von „Ingenieur“ zu „Algorithmus“. Das wird noch vielen derzeit Arbeitenden den Schlaf rauben, auch weil wir da zu viele Unterschiede sehen. In den USA gibt es das Wort Informatik gar nicht. Man nennt sich „Engineer“, wie die anderen auch…
Roboterisierung versus Meta-Managen

Vor dem Automatisieren warne ich ja schon lange und ätze seitdem über die zunehmende Flachbildschirmrückseitenberatung bei den Banken oder in den Autohäusern, bei denen die hartnäckig so genannten Berater den wartenden Kunden an ihren Selbstfindungsprozessen am Bildschirm stockend und unzusammenhängend teilhaben lassen. „Lassen Sie uns einmal sehen, ob Ihr gewünschtes Auto inklusive Motor geliefert wird. Hmmh, das steht doch nirgendwo. Finde ich nicht. Wissen Sie was? Wir konfigurieren einfach das ganze Auto fix und fertig, das dauert eine halbe Stunde, und anschließend fahren wir eine virtuelle Probe im Netz mit Ton. Da dürfte das Auto ja nicht anspringen, wenn es keinen Motor hat.“
Viele Berufe werden derzeit so sehr stark prozessiert, dass man sich das Klicken eines Menschen schließlich ganz ersparen kann. Es ist also nicht so, dass die Berater nun gar keine Ahnung mehr hätten oder haben könnten, aber sie sollen es nicht müssen, weil ihre Arbeit ja künstlich verdummt wird, um sie automatisieren zu können.
Alle übrigbleibenden Arbeiten haben dann aber etwas mit dem Klarkommen mit Menschen oder mit Exzellenz zu tun. Die Arbeit 4.0 erfordert Persönlichkeit und/oder Meisterschaft, selbstständiges Arbeiten und Selbstverantwortung.
Wie aber führt man jetzt Unternehmen mit selbstverantwortlichen Mitarbeitern? Das ist der-zeit noch nicht so einfach zu sagen, auch weil immer nur gesagt wird, was alles verschwindet, und nicht, was kommt. Tendenziell könnte wahr werden, was seit langem gesagt und gefordert wird: Der optimale Manager ist ein wichtiger Knoten im Netz, er coacht seine Mitarbeiter, führt sie als Vorbild und empowert sie nach aller Möglichkeit.

Lebenslanges Lernen

Wenn aber eine Firma die Kernkompetenzen wechselt, ist es nicht damit getan, dass Einzelne tief durchatmen und den neuen Weg gehen. Sie müssen die anderen auch zum Wandel tragen.
Wenn Sie selbst einmal vom Haareschneiden zum Ästeputzen umgeschult werden sollen, dann erschauern Sie ziemlich stark über das, was da von Ihnen verlangt wird. „Kann ich das? Wie lange dauert es, bis ich wieder alles gelernt habe? Ich habe zehn Jahre im alten Job bis zum Senior gebraucht – wie wird es nun im neuen Gebiet sein?“ Einzeln gesehen haben wir hohen Respekt vor einem Wechsel der Kernkompetenzen, wenn man den von uns verlangt. Andere Kernkompetenzen wie „Managen“ oder „Verkaufen“ sind für viele von uns gar nie erreichbar, so wie ich nie tanzen lernen werde. Ich staune, mit welcher Nonchalance Executives an die Mitarbeiter appellieren, die Firma von Grund auf zu erneuern. „Hey, kann denn das Erwerben neuer Kernkompetenzen so schnell gehen?“ Und Sie antworten schneidig lächelnd: „Es muss gehen. Es geht ums Überleben.“ Aha. SABTA. Sicheres Auftreten bei totaler Ahnungslosigkeit. Diese Kernkompetenz könnte bleiben.

Gunther Dueck studierte Mathematik in Göttingen und arbeitete lange Zeit als Professor für Mathematik an der Universität in Bielefeld. Später wechselte er zu IBM Deutschland und war vor allem in den Bereichen „technologische Ausrichtung“, „Strategiefragen“ und „Cultural Change“ im Unternehmen tätig. Heute ist er Autor verschiedener satirisch-philosophischer Sachbücher über Themen des „Internets“ und der „Arbeitswelt“ und tritt als Redner auf. Er lebt mit seiner Frau in Heidelberg und ist Vater von zwei Kindern. Er sprach bereits das dritte Mal auf der EUROPACE- Konferenz.

www.omnisophie.com